(Auszug aus dem Buch "Hinterkaifeck")

Die Mordnacht vom 31. März auf den 1. April

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Die kleine Standuhr in der Küche rasselte acht Schläge herunter. Draußen tobt sich der Sturm so richtig aus. Bei einem besonders starken Windstoß ist es als würden die Fenster aufspringen. Im Ofen flackert unruhig das Feuer. Aus dem Kamin dringt ein schauerliches Heulen und Pfeifen. „Der Sturm“, brummt der Alte, „hört der denn überhaupt nicht mehr auf?“ Der kleine Josef zeigt keinerlei Scheu vor der neuen Magd. Übermütig zieht er am Rock der Frau. Sie muß ihren rechten Fuß ausstrecken. Lachend setzt sich der Bub drauf. „Hoppe, hoppe Reiter...“

„Jetzt ist aber Schluß.“ Viktoria Gabriel zeigt mit der rechten Hand auf die Standuhr. Der längere der beiden Messingzeiger hat schon wieder einen winzigen Ruck gemacht. „Sonst muß er spätestens um sieben ins Bett“, sagt sie zur Magd.

Doch das Kind wehrt sich, schreit und wirft sich auf den Boden. Viktoria packt den Kleinen energisch, hebt ihn hoch und zieht dem sich immer noch Sträubenden das Nachthemd an. Dann trägt sie ihn hinüber ins Schlafzimmer, drückt ihn etwas fest in seinen Kinderwagen. Als sie die Tür hinter sich schließen will, richtet sich der Kleine auf und jammert „Wasser, Wasser...“ Die Witwe nimmt ihren Jüngsten erneut auf den Arm, trägt ihn zur Tür. Dort langt der Bub mit allen Fingern der rechten Hand in einen zinnernen Weihwasserbehälter. „Pass doch auf“, schimpft Viktoria, „du machst dich ja ganz nass.“ Mit ungelenken Bewegungen zeichnet der Bub ein Kreuz auf seine Stirn, das Kinn und die Brust.

Als sie in die Küche zurückkommt, ist Maria Baumgartner schon am Hinausgehen. „Nicht daß ich gleich am ersten Tag verschlafe“, meint sie entschuldigend. „Also, ich wünsch’ euch allen eine gute Nacht. Ich muß noch mein ganzes Zeug auspacken.“

Auch Andreas Gruber hält es nicht mehr. „Ich leg mich schon mal ins Bett. Gehst du mit“, sagt er zur kleinen Cäzilia. Die Siebenjährige schläft auf einem Kanapee im Schlafzimmer der Mutter. „Gleich“, antwortet das Mädchen, „ich will noch mal das Gedicht durchlesen. Der Lehrer will uns morgen ausfragen.“

In der Küche ist es auf einmal still geworden. Noch immer klappern die Fensterläden, heult es aus dem Kamin. Als sich Cäzilia nach einigen Minuten mit einem „Gut´ Nacht“ verabschiedet, sind die zwei Frauen allein.

Die alte Gruberin räumt wortlos das Geschirr auf. Viktoria Gabriel strickt an einem Pullover für ihre Tochter. Plötzlich setzt sich die 72jährige ganz nah zu Viktoria. Ihr vergrämtes, hartes Gesicht ist wie verändert. Vorsichtig rutscht sie auf der hölzernen Bank noch mehr heran. Viktoria ist es, als würde sie Schutz suchen.

Etwas unerklärliches scheint in diesem Moment in der alten Frau vorzugehen. Aus ihrem sonst so abweisenden Gesicht starren hilfesuchend zwei matte Augen.

Viktoria Gabriel hat lange darauf gewartet. Jetzt, wo es soweit ist, fühlt sie sich der Situation nicht mehr gewachsen. Schamesröte schießt der jungen Witwe in den Kopf. „Mutter, Mutter“ sagt sie, und es klingt wie ein Flehen, „laß uns morgen darüber sprechen. Es ist schon spät...“

Ein Schlag, der im ganzen Haus zu hören ist, läßt die zwei Frauen unwillkürlich zusammenzucken. Es könnte das große Stadeltor gewesen sein. Erschrocken bringt die alte Gruberin nur ein „Was war denn das?“ hervor. Beide zittern. Da! Jetzt wieder. „Irgendwas stimmt da nicht...“, kommt es Viktoria Gabriel zögernd über die Lippen. Dann glaubt sie Schritte zu hören. Sind da nicht auch Stimmen?

Viktoria Gabriel und ihre Mutter schauen sich an. Heult da nicht ein kleines Kind? Die seltsamen Geräusche scheinen aus dem ans Wohnhaus angebauten Stall zu kommen.

Bei Viktoria Gabriel steigt die Angst wieder auf. Aber in Gegenwart ihrer Mutter versucht sie die zu unterdrücken. „Ich schau mal nach – ich bin gleich wieder da“.

Sie blickt sich beim Hinausgehen in den Vorraum noch mal um. Doch ihre Mutter sieht nicht her. Zusammengesunken sitzt sie auf der Fensterbank.

Viktoria zieht keine Schuhe an. Sie trägt einen dunklen Rock, eine leinerne Bluse und dicke, schwarze Wollstrümpfe. Von einem rostigen Nagel an der Tür zum langen, schmalen Futtergang nimmt sie eine Petroleumlampe, zündet sie an.

Hinter den beiden einzigen kleinen Fenstern der Nordseite des Stalltraktes baut der Sturm gewaltige Wolkenberge auf, schiebt sie vor den bleichen Mond, begräbt ihn darunter. In der Ferne heulen Hunde. Was war denn das? Viktoria bleibt kurz stehen, hält die flackernde Lampe weit von sich, um nicht geblendet zu werden. Das war doch...

Nur kurz überlegt sie, ob sie nicht wieder umkehren soll. Dann zieht sie hastig den Riegel zum Stall zurück, stößt mit einem Ruck die Brettertüre auf. In diesem Moment brüllt eine Kuh auf. Was ist denn dort los? Eines der Rinder hat sich losgerissen. Viktoria hängt nun die Lampe an einen der dafür vorgesehenen langen Eisenstifte. Die schnaubenden Tiere werfen bizarre Konturen an die Wände.

Leise winselt der Hofhund in der Ecke, zieht an seiner Kette. Als sie die Kuh wieder anbinden will, stutzt sie erneut. Was war nun das wieder...

Statt ihren Vater zu Hilfe zu holen, geht sie durch den ganzen Stall zu der schmalen Tür, die in den Stadel mit den Futtervorräten hinüberführt. Erneut zögert sie. Ihr ist, als würde sich eine unsichtbare Wand vor ihr aufbauen, sie am Weitergehen hindern. Dann aber öffnet sie die unscheinbare Verbindungstür.

Da – der schwache Schein der Petroleumlampe, die am anderen Ende des Stalles hängt, fällt auf ein Gesicht. Jetzt ist es direkt vor ihr. Viktoria bringt keinen Laut heraus, die Kehle ist ihr wie zugeschnürt. Ihre Augen weiten sich, ihre Lippen formen sich zu einem unhörbaren Schrei. Das Flackern der Lampe verzerrt das Gesicht zu einer Fratze. Kräftige Männerhände packen sie an den Armen. Im nächsten Moment spürt die Witwe einen furchtbaren Schlag...