Liebe auf den ersten Blick

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Unangenehm war mir immer, wenn mich jemand als „Schlossherrn“ vorstellte. Nicht nur, weil es überheblich klang, sondern weil es einfach nicht stimmte. „Schlossknecht“ wäre richtig gewesen. Denn ich bin der Knecht unseres Schlosses – von Anfang an.

Peter Leuschner

 

Nicht wir haben uns das Schloss, sondern das Schloss hat sich uns ausgesucht. Und es war bei seiner Wahl sehr egoistisch. Schließlich muss es gewusst haben, welch großen Opfer es uns über viele Jahre abverlangen würde. Aber das Schloss hat nur an sich gedacht, weil ihm klar war, dass es ihm bei uns so gut wie kaum jemals zuvor gehen würde.

Helga Leuschner

 

Es war die totale Hektik! Ich kam gerade aus dem Eichstätter Notariat, hetzte zum Parkplatz, raste zum Hauptbahnhof nach Ingolstadt und hätte beinahe noch einen Unfall verursacht. Ich musste einen bestimmten Zug nach München erwischen, denn ich hatte einen meiner ersten Nachtdienste in der Redaktion der Münchener Boulevardzeitung tz, wo ich erst zwölf Wochen zuvor meine neue Redakteursstelle angetreten hatte – und ich war soeben durch Unterschrift Schlossbesitzer geworden. Mit gerade mal 27 Jahren.

Schlossbesitzer! Wie das klang. Uns gehörte nun die mittelalterliche Burg der einstigen Herren von Hofstetten, die von 1691 bis 1694 zum barocken Jagdsitz der Eichstätter Fürstbischöfe umgebaut worden war, samt romanischem Bergfried mit bis zu 2,25 Meter dicken Bruchsteinmauern, einem trocken gelegten Burggraben und einem 250 Jahre alten Stadel inmitten eines knapp 8000 Quadratmeter großen Gartens mit wunderbarem altem Baumbestand. Und wir hatten einen berühmten Vorbesitzer: Prinz Eugen de Beauharnais, besser bekannt als Herzog von Leuchtenberg, der Stiefsohn von Kaiser Napoleon und bis zu dessen Sturz Vizekönig von Italien, später Wahl-Münchner und Wahl-Eichstätter, mehr oder weniger abhängig von seinem Schwiegervater, dem ersten bayerischen König Max I. Joseph.

Dass das Schloss durch seine spätere Nutzung ab 1861 als königlich-bayerisches Forstamt ziemlich entstellt war, dass vieles von dem, was einmal schön war, zugemauert oder überputzt worden war, dass es auf rund 600 Quadratmetern Wohnfläche zwar viele vier Meter hohe Stuckräume, barocke Türverkleidungen, aber nicht einmal den Komfort einer Sozialwohnung gab, störte uns nicht. Wir waren jung und dumm – und beide in dieses heruntergekommene Baudenkmal verliebt. Helga, gerade erst 22, und ich blickten euphorisch und voller Optimismus in die Zukunft. Keiner ahnte, dass der Notartermin an diesem eisigen Novembervormittag 1974 zu unserem gemeinsamen Schicksalstag geworden war. Die Weichen aber für das Schlossabenteuer waren schon drei Monate zuvor gestellt worden.

Dabei wollten Helga und ich im Sommer 1974 überhaupt kein Schloss kaufen – auch wenn ich ihr schon vor der Ehe eins versprochen hatte. Wir waren seit zwei Jahren verheiratet, wohnten glücklich in einer frisch renovierten Altbauwohnung im Herzen von Ingolstadt und waren froh, zu Fuß ins Theater, Kino zu Ausstellungen, zu Freunden oder in unsere Lieblingslokale gehen zu können. Ein Leben auf dem Lande? Unvorstellbar!

Doch dann wollten Helgas Eltern ihr Ingolstädter Altstadthaus verkaufen und wir halfen ihnen bei der Suche nach einem geeigneten kleinen Bauernanwesen, einem alten Pfarrhof, Forsthaus oder leerstehenden Schulhaus. Wir könnten uns dort ja ein Zimmer fürs Wochenende einrichten, so die Überlegung. An einem heißen Augusttag 1974 waren wir wieder zu viert unterwegs Richtung Altmühltal. In Hofstetten, einem damals 600 Einwohner großen Dorf keine 18 Kilometer nördlich von Ingolstad, hielten wir erstmals an. Warum? Das weiß ich bis heute nicht. Denn eigentlich wollten wir hinunter ins Tal, wo sich die Dörfer verträumt an den Fluss schmiegen. In der Ortsmitte von Hofstetten richteten wir aus dem Autofenster die Routinefrage an einen älteren Mann: „Gibt es hier ein altes Forsthaus oder eine alte Schule zu kaufen?“

Die überraschende Antwort: „Ja., ja, da unten steht ein Forsthaus leer – wir haben aber auch noch ein altes Schloss.“ Das Forsthaus, ein Zweckbau aus den sechziger Jahren, war eher eine Enttäuschung. Also hin zum Schloss, aber nur der Neugierde halber. Es verbarg sich hinter hohen Bäumen, im Ortskern, war von der Straße aus nicht zu sehen. Nur die rund hundert Meter lange Mauer aus Kalkbruchsteinen war uns aufgefallen. Staunend gingen wir durch den Garten bis zum Portal, fühlten uns dabei wie Eindringlinge und blickten dann unsicher hinauf zu dem prächtigen Kalksteinwappen mit der Jahreszahl 1694. Die lateinische Inschrift verriet, dass Fürstbischof Johann Euchar Schenk von Castell „dieses Haus aus Trümmern und Ruinen in jetziger Gestalt und Schönheit wieder hergestellt“ habe.

Alles kam uns riesig vor, irgendwie unrealistisch. An der Fassade blätterte der Putz ab, die Innenhofmauer überwucherte üppiger Efeu, über allem lag ein zarter Hauch von Wehmut und Verfall. Helga und ich starrten durch die geschlossenen Fenster in die Gewölberäume im Erdgeschoss und spürten: Das ist es!

Wir überzeugten Helgas Eltern zum gemeinsamen Kauf (später erwarben wir deren Anteile zurück). Nun wurde es ernst. Denn wir besaßen keinerlei Ersparnisse, uns fehlte jede Erfahrung im Umgang mit historischer Bausubstanz und mir auch noch jegliches handwerkliche Geschick. Aus heutiger Sicht der „reine Wahnsinn“. Dabei hatte bei einer Vorbesichtigung meine Großmutter noch entsetzt ausgerufen: „Bua, ihr seid’s verrückt.“

Selbstverständlich waren wir verrückt. Denn hätten wir genau überlegt, was da auf uns zukommen würde, hätten wir sofort die Finger davon gelassen. Wir ahnten nicht, wie viel Kraft, Schweiß, Sorgen, Verzicht, Ärger, Staub, Dreck und schlaflose Nächte uns die Erhaltung dieses geschichtsträchtigen Bauwerks kosten würde. Aber auch das sei vorweg verraten: Die Energie, die uns das Schloss geraubt hat, haben wir von ihm auch wieder zurückbekommen. Und viele glückliche Momente, neue Freunde und interessante Kontakte mit Gleichgesinnten dazu.

Über den Winter 1974/75 halfen alle zusammen, um das Schloss mit seinen damals noch 25 Zimmern wenigstens halbwegs bewohnbar zu machen. Da wurde geputzt, gepinselt, gekittet, Vorhänge aufgehängt und Teppichböden verlegt, als wär’s ein Neubau – alles Fehler der ersten Stunde. Uns fehlte damals noch die Einsicht, dass man einem Schloss nicht seine eigenen bürgerlichen Wohnvorstellungen aufzwingen kann, sondern sich ihm unterordnen muss.

Am 30.April 1975 kam dann der Einzug, die lange erwartete erste Nacht im eigenen Schloss. Endlich einmal bei offenen Fenstern schlafen, ohne vom Lärm der Stadt geweckt zu werden. Weit gefehlt! Ab etwa vier Uhr war es vorbei mit der Ruhe. Ein ohrenbetäubendes Gezwitscher hob uns aus dem Bett. Alles, was Federn hatte und in den Bäumen direkt ums Schloss hockte, stimmte sein Morgenkonzert an. Hunderte von Vögeln, Buchfinken, Gelbspötter, Mönchsgrasmücken, Stieglitze, Blaumeisen, Kohlmeisen, Amseln und Stare begrüßten lautstark den neuen Tag.

Nichts wie die Fenster zu. Frische Luft hin oder her. Als wir sie später wieder öffneten, blickten wir bei strahlendem Sonnenschein überwältigt ins überquellende Grün des Gartens, ins Blätterwerk der schier ins Schloss hereinwachsenden Äste. So viel Natur für uns Stadtkinder! Wir konnten uns gar nicht satt sehen und waren regelrecht betäubt.

So musste es sein, das Paradies, dachten wir. Wir erlebten ein seltenes Glücksgefühl, eines, das einen ganz weit nach oben trägt, über alle Probleme des Alltags, das einen alle drückenden Sorgen vergessen und keine Zukunftsangst aufkeimen lässt. Gemeinsam freuten wir uns auf das Leben in historischen Räumen und auf unser erstes Kind, das im Herbst zur Welt kommen sollte.

 

Aus meiner Sicht

Ein Nachtrag von Juri-Johannes Leuschner

 

Als mein Vater vor über einem Jahr erzählte, er wolle eine Serie über das Schloss machen, habe ich mir nichts dabei gedacht. Es ist schließlich sein Leben, und ich wusste auch, er hat viel zu erzählen, denn langweilig war es bisher nicht. Dass es aber so intim werden würde und auch mich und den Rest der Familie so stark betrifft, habe ich nicht im Geringsten geahnt. Und ich darf bestimmt für meine Mutter, für meinen Bruder und meine Schwester sprechen, wenn ich sage: Es war ein mehr als komisches Gefühl, sich so in die Öffentlichkeit gezerrt zu sehen. [...]

 

Dabei war es für mich immer ganz normal, in einem Schloss zu leben. Es ist ja auch nur ein kleines, so ganz ohne Dienstpersonal und ohne Rolls-Royce in der Garage. Ich kannte es nicht anders und habe schon als Kind auch die Nachteile gespürt. Wir hatten lange wegen der Renovierung keine Kinderzimmer. So waren meine Siebensachen in einem Nachtkästchen im Familienschlafzimmer und in einer Schublade des Erkerzimmers aufgehoben. Bis ich schließlich mit Miranha den unbeheizbaren Rittersaal einnahm – als Spielzimmer. Durch eine Bodenmarkierung in zwei Hälften geteilt und ohne Möbel verkam der aber schnell zu einer lieblosen Rumpelkammer für Spielzeug. So war es eigentlich immer: viel Platz, aber keine Chance, diesen auch nur annähernd sinnvoll und für Kinder vor allem irgendwie heimelig zu gestallten.

Zum Ausgleich gab es Bezeichnungen für Teile des Hauses, auf die wir durchaus stolz waren, und die sich anders anhörten als die in den Häusern unserer Freunde. Wir hatten den Rittersaal, den Bergfried, die Wehr- und die Ringmauern, den Mauereinstieg und die Mauertreppe, die „Remise“, die eigentlich ein Stadel ist, und den Burggraben. Wir hatten keine Haustür, sondern das Portal und dazu ein prachtvolles Wappen. Es gab keinen Flur, sondern Gänge und es gab keine einfache Treppe, sondern ein Treppenhaus. Wir hatten den Vorburgbereich und eine vermutete Zugbrücke.

Wie sich das anhörte und wie es unsere kindliche Fantasie zu beflügeln vermochte! Dazu kamen die vielen „Geheimgänge“, die leider bis heute ihrer Entdeckung harren und die uns Kindern als gesichert und dazugehörig erschienen. [...]

 

Unser Dorf, das heute leider mehr der langweiligen Einfamilienhaus-Öde einer Vorstadt gleicht und zum „Schlafstetten“ verkommen ist, war in unserer Kindheit noch ein richtig quirliges Bauerndorf. Da reihten sich die kleineren und größeren Höfe aneinander und es war voll von ländlichen Geräuschen, die ich inzwischen vermisse. Der Dorfschmied dengelte noch täglich in seiner Werkstatt und die Tiere auf den Höfen blökten, muhten, schnatterten, gackerten, grunzten und krähten um die Wette. Unsere Hauptstraße war noch von wenigen Autos befahren. Man ging im Dorf zu Fuß oder fuhr mit dem Fahrrad und traf sich auf der Straße zufällig auf einen Ratsch. Wir hatten sogar drei kleine Läden für den täglichen Bedarf. Heute muss man auch für den schnellen Einkauf mit dem Auto zu einem Supermarkt in Richtung Stadt fahren. Unsere Gemütlichkeit haben wir unwiederbringlich verloren.

Auch die alten Frauen sind inzwischen gestorben, die wir noch schocken konnten. Wenn Emanuel etwa mit seinen knappen drei Jahren im Hochsommer splitterfasernackt auf dem Fahrrad durchs Dorf brauste. Deren Lieblingsfrage auf der Straße war immer, wenn sie Kinder sahen, die sie nicht kannten: „Vun wem bischd nachad du?“ oder „Zu wem ghärscht nachad du?“ Auf unsere Antwort kam dann ein ganz gedehntes und vielleicht auch belustigtes: „Ahaa, vuum Schloooss eusoo!“ [...]